Praxisfälle

Verzicht auf Kontrolle und Erfassung der Arbeitsstunden: Die Vertrauensarbeitszeit

Mit der Einführung von Vertrauensarbeitszeit wird ganz oder teilweise auf Kontrollen der Arbeitszeit verzichtet. Vor dem Hintergrund der grundsätzlich bestehenden Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung stellt sich die Frage, in welchen Konstellationen Vertrauensarbeitszeit eingeführt werden kann.

Von: Ilknur Özcan, Marc Ph. Prinz   Teilen  

Ilknur Özcan

Ilknur Özcan ist Rechtsanwältin und Mitglied der Fachgruppe Arbeitsrecht der Kanzlei VISCHER. Sie berät und vertritt nationale und internationale Klienten in allen Belangen des Arbeitsrechts.

Marc Ph. Prinz

Marc Ph. Prinz, LL.M., ist Leiter des Arbeitsrechtsteams der Kanzlei VISCHER. Er verfügt über langjährige Praxiserfahrung in allen Fragen des Arbeitsrechts. Er berät Arbeitgeber und Kader und vertritt diese in Gerichtsprozessen, insbesondere im Bereich Vergütung und Bonus.

Verzicht auf Kontrolle und Erfassung der Arbeitsstunden

Was ist Vertrauensarbeitszeit?
Vertrauensarbeitszeit kommt in der Praxis in verschiedensten Ausprägungen vor. Grundsätzlich ist darunter ein Modell zu verstehen, in dem das Arbeitsverhältnis auf Vertrauen basiert und der Arbeitgeber auf die Kontrolle der Arbeitszeit und die Arbeitszeiterfassung ganz oder teilweise verzichtet. Vor dem Hintergrund der bestehenden arbeitsgesetzlichen Verpflichtungen des Arbeitgebers aus dem Arbeitsgesetz (ArG) und den Verordnungen (ArGV 1–5) kann Vertrauensarbeitszeit jedoch nur unter eingeschränkten Voraussetzungen eingeführt werden.

Grundsatz: Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung
Als Arbeitszeit gilt gemäss Art. 13 ArGV die Zeit, während derer sich die Mitarbeitenden zur Verfügung des Arbeitgebers halten müssen; der Weg zu und von der Arbeit gilt nicht als Arbeitszeit.

Art. 46 ArG sieht vor, dass der Arbeitgeber Verzeichnisse oder andere Unterlagen, aus denen die für den Vollzug des ArG und seiner Verordnungen erforderlichen Angaben ersichtlich sind, den Vollzugsund Aufsichtsorganen zur Verfügung zu halten hat. Aus dieser Bestimmung geht auch hervor, dass den Arbeitgeber eine Verpflichtung trifft, die entsprechenden Unterlagen zu erstellen. Zu dieser Dokumentationspflicht gehört unter anderem gemäss Art. 73 Abs. 1 ArGV 1:

  • die geleistete (tägliche und wöchentliche) Arbeitszeit (inkl. Ausgleichs- und Überzeitarbeit) sowie ihre Lage (lit. c)
  • die gewährten wöchentlichen Ruhe- oder Ersatzruhetage, soweit diese nicht regelmässig auf einen Sonntag fallen (lit. d)
  • die Lage und Dauer der Pausen von einer halben Stunde und mehr (lit. e) und
  • die nach Gesetz geschuldeten Lohn- und/ oder Zeitzuschläge (lit. h)
     

Ausnahmen von der Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung
Damit steht fest, dass der Arbeitgeber grundsätzlich verpflichtet ist, die Arbeitszeit systematisch zu erfassen. Das Gesetz sieht jedoch in Art. 73a ArGV 1 sowie Art. 73b ArGV 1 Ausnahmen von dieser Verpflichtung vor. Damit ist in gewissen Konstellationen die Einführung von Vertrauensarbeitszeit möglich.

Gänzlicher Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung

Ausschluss aus dem Anwendungsbereich des ArG
Die Möglichkeit, gänzlich auf eine Arbeitszeiterfassung zu verzichten und damit Vertrauensarbeitszeit einzuführen, besteht in erster Linie bei Mitarbeitenden, die vom Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes gemäss Art. 3 ArG ausgenommen sind.

Vom Geltungsbereich des ArG und der ArGV 1–5 (mit Ausnahme der Vorschriften über den Gesundheitsschutz) betroffen sind gemäss Art. 3 lit. d ArG «höhere leitende Angestellte». Als höhere leitende Angestellte gelten gemäss Art. 9 ArGV 1 nur Mitarbeitende, die aufgrund ihrer Stellung und Verantwortung sowie in Abhängigkeit von der Grösse des Betriebs über weitreichende Entscheidungsbefugnisse verfügen oder Entscheide von grosser Tragweite massgeblich im Unternehmen beeinflussen und dadurch auf die Struktur, den Geschäftsgang und die Entwicklung eines Betriebs oder Betriebsteils einen nachhaltigen Einfluss nehmen können. In der Regel fallen nur Topmanager wie Geschäftsführer und andere Geschäftsleitungsmitglieder in diese Kategorie von Mitarbeitenden. Massgebend ist jedoch jeweils die Beurteilung im Einzelfall.

Ebenfalls vom persönlichen Geltungsbereich der Arbeitszeitvorschriften des ArG und der ArGV 1–5 ausgenommen sind gemäss Art. 3 lit. g ArG «Handelsreisende» im Sinne der Art. 347 ff. OR. Auch für diese Mitarbeitenden kann deshalb auf eine Zeiterfassung gänzlich verzichtet und damit Vertrauensarbeitszeit eingeführt werden.

Als Handelsreisender nach Art. 347 Abs. 1 OR gilt, wer auf Rechnung des Inhabers eines Handels-, Fabrikations- oder anderen nach kaufmännischer Art geführten Geschäfts gegen Lohn Geschäfte jede Art ausserhalb der Geschäftsräume des Arbeitgebers vermittelt oder abschliesst. Nicht als Handelsreisender gilt hingegen ein Mitarbeitender, der nicht vorwiegend eine Reisetätigkeit ausübt oder nur gelegentlich oder vorübergehend für den Arbeitgeber tätig ist, sowie der Mitarbeitende, der Geschäfte auf eigene Rechnung abschliesst (Art. 347 Abs. 2 OR). Entscheidend für die Qualifikation als Handelsreisender im Sinne von Art. 3 lit. g ArG ist, dass die betroffenen Mitarbeitenden

  • auf Rechnung des Arbeitgebers und nicht auf eigene Rechnung tätig werden.
  • hre Tätigkeit ausschliesslich oder vorwiegend (mehr als 50%) ausserhalb der Geschäftsräume verrichten und
  • Geschäfte vermitteln oder abschliessen (sog. Verpflichtungsgeschäfte).

Nicht unter den Begriff des Handelsreisenden fallen daher Mitarbeitende, die Verträge auch gleich selbst abwickeln (d.h. die Ware sofort übergeben oder die Dienstleistung sofort erbringen, sog. Verfügungsgeschäfte).

Verzicht aufgrund eines Gesamtarbeitsvertrags (GAV)
Mit Art. 73a ArGV 1 sieht das Gesetz eine weitere Ausnahme von der Pflicht zur systematischen Arbeitszeiterfassung und damit die Möglichkeit zur Einführung von Vertrauensarbeitszeit vor. Nach dieser Bestimmung können Sozialpartner in einem GAV vorsehen, dass die Angaben gemäss Art. 73 Abs. 1 lit. c–e und h ArGV 1 zur Arbeitszeit nicht erfasst werden müssen, sofern die folgenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:

  • Die betroffenen Mitarbeitenden müssen über eine grosse Autonomie bei der Gestaltung ihrer Arbeit verfügen und die Arbeitszeiten grösstenteils selbst festlegen können (lit. a). Als Richtwert für die erforderliche Zeitautonomie muss der betroffene Mitarbeitendem indestens die Hälfte der Arbeitszeit frei einteilen können. Jedoch müssen stets die gesamten Umstände berücksichtigt werden. Für eine Zeitautonomie spricht Telearbeit ohne festgelegten Zeitplan, gleitende Arbeitszeiten und Fehlen von Präsenzzeiten. Hingegen sprechen obligatorische Sitzungen, Blockzeiten, eine Verpflichtung zur ständigen Erreichbarkeit, ein Pflichtenheft, welches ständige Präsenz verlangt (z.B. Baustellenleiter oder Werkstattleiter), sowie das Vorliegen eines grossen Koordinationsbedarfs und damit eine zwingende Verfügbarkeit gegenüber Vorgesetzten und/oder Kunden gegen eine Zeitautonomie.
  • Die betroffenen Mitarbeitenden müssen über ein Bruttojahreseinkommen (inkl. Boni) von mehr als CHF 120 000.– verfügen, wobei sich dieser Betrag bei Teilzeitarbeit oder bei unterjähriger Anstellung anteilsmässig reduziert (lit. b).
  • Ausserdem muss zwischen dem betroffenen Mitarbeitenden und Arbeitgeber der Verzicht individuell schriftlich vereinbart worden sein (lit. c). Wenn ein Unternehmen die Personaldokumente elektronisch führt, so ist es gemäss den Weisungen des SECO auch genügend, wenn die Vereinbarung in elektronischer Form erfolgt. Es muss lediglich nachvollziehbar sein, dass die betroffenen Mitarbeitenden ihre Zustimmung abgegeben haben. Nicht erforderlich ist hingegen, dass die Anforderungen an die Schriftlichkeit gemäss Art. 13 f. OR erfüllt sind.

Der GAV, der für den Verzicht auf die Zeiterfassung vorausgesetzt ist, muss von der Mehrheit der repräsentativen Arbeitnehmerorganisationen, insbesondere der Branche oder des Betriebs, unterzeichnet sein. Bei bereits bestehenden GAV kann jedoch angenommen werden, dass diesen die erforderliche Repräsentativität zukommt. Der GAV muss darüber hinaus Folgendes vorsehen (Art. 73a Abs. 4 ArGV 1):

  • besondere Massnahmen für den Gesundheitsschutz und die Einhaltung der gesetzlich festgeschriebenen Ruhezeiten (lit. a) sowie
  • die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Bezeichnung einer internen Anlaufstelle für Fragen zu den Arbeitszeiten (lit. b)

Des Weiteren trifft den Arbeitgeber die Pflicht, den GAV und die individuellen Verzichtsvereinbarungen sowie ein Verzeichnis der Mitarbeitenden, die auf die Arbeitszeiterfassung verzichtet haben, mit der Angabe ihrer Bruttojahreseinkommen zu dokumentieren und den Vollzugsund Aufsichtsorganen zur Verfügung zu halten (Art. 73a Abs. 5 ArGV 1).

Vereinfachte Arbeitszeiterfassung
Neben dem gänzlichen Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung besteht für den Arbeitgeber auch die Möglichkeit, bei gewissen Mitarbeitenden eine vereinfachte Arbeitszeiterfassung einzuführen und damit eine abgeschwächte Form der Vertrauensarbeitszeit einzuführen. Art. 73b Abs. 1 ArGV 1 sieht hierzu vor, dass der Arbeitgeber bei Mitarbeitenden, die ihre Arbeitszeiten zu einem namhaften Teil (Richtwert: 25% der Arbeitszeit) selbst festsetzen können, eine vereinfachte Arbeitszeiterfassung einführen können. Vereinfachte Zeiterfassung bedeutet, dass einzig die geleistete tägliche Arbeitszeit (nicht jedoch deren zeitliche Lage) sowie bei Nacht- und Sonntagsarbeit zusätzlich Beginn und Ende dieser Einsätze erfasst werden müssen.

In Betrieben mit 50 oder mehr Mitarbeitenden erfordert die Einführung der vereinfachten Arbeitszeit den Abschluss einer Kollektivvereinbarung. Diese Kollektivvereinbarung wird zwischen Arbeitgeber und der Arbeitnehmervertretung einer Branche oder eines Betriebs oder, wo eine solche nicht besteht, mit der Mehrheit der Mitarbeitenden des Betriebs abgeschlossen und muss die folgenden Punkte festlegen (Art. 73b Abs. 2 ArGV 1):

  • betroffene Arbeitnehmerkategorien für die vereinfachte Arbeitszeiterfassung (lit. a)
  • besondere Bestimmungen zur Einhaltung der Arbeitszeit- und Ruhezeitvorschriften (lit. b) sowie
  • Regelungen zu einem paritätischen Verfahren (lit. c)

In Betrieben mit weniger als 50 Mitarbeitenden kann die vereinfachte Arbeitszeiterfassung auch durch eine individuelle schriftliche Vereinbarung zwischen dem Arbeitgeber und dem betroffenen Mitarbeitenden eingeführt werden (Art. 73b Abs. 3 ArGV 1). Die Vereinbarung muss auf die geltenden Arbeits- und Ruhezeitbestimmungen hinweisen. Zusätzlich muss jährlich ein Endjahresgespräch zur Arbeitszeitbelastung geführt und dokumentiert werden.

Weiter ist zu beachten, dass es den Mitarbeitenden auch bei Einführung einer vereinfachten Arbeitszeiterfassung freisteht, die Angaben gemäss Art. 73 Abs. 1 lit. c–e ArGV 1 zu erfassen. Deswegen trifft den Arbeitgeber eine Pflicht, dafür ein geeignetes Instrument zur Verfügung zu stellen (Art. 73b Abs. 4 ArGV 1).

Fazit
Aus dem Gesagten folgt, dass die Möglichkeit der Einführung von Vertrauensarbeitszeit nur bei Vorliegen der genannten restriktiven Voraussetzungen und nur für gewisse Kategorien von Mitarbeitenden besteht. Zusammengefasst ist ein gänzlicher Verzicht auf die Arbeitszeiterfassung nur möglich (i) bei Mitarbeitenden, die als höhere leitende Angestellte oder Handelsreisende gemäss Art. 3 lit. d und g ArG gelten, und (ii) Mitarbeitenden, die über eine hohe Gestaltungs- und Zeitautonomie (mind. 50%) verfügen und die Möglichkeit in einem GAV enthalten ist. Die Möglichkeit, eine vereinfachte Arbeitszeiterfassung und damit eine abgeschwächte Form von Vertrauensarbeitszeit einzuführen, besteht bei Mitarbeitenden, die über eine gewisse Zeitautonomie (mind. 25%) verfügen.

(Dieser Praxisfall ist in der Ausgabe Juni 2024 von personalSCHWEIZ erschienen)

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