Experten-Interviews

März 2025

Wie künstliche Intelligenz die Personalarbeit beeinflusst: «Wir kratzen gerade erst an der Oberfläche»

Künstliche Intelligenz (KI) wird immer mehr Teil unseres (Arbeits-)Alltags. Doch nutzen wir ihr Potenzial optimal? Timm Süss, Lead AI Circle bei der Baloise Gruppe, beschäftigt sich täglich mit dieser Frage. Im Titelinterview spricht der KI-Experte über ungenutzte Chancen, Risiken und die KI-Trends, die die Personalarbeit prägen werden.

Von: Dave Husi   Teilen  

Dave Husi

Dave Husi ist Chefredaktor von personalSCHWEIZ.
Zuvor hat er bei einem Medien-Startup Gründerluft geschnuppert und war bei einem Fachverlag im Medizinbereich journalistisch tätig.

Wie künstliche Intelligenz die Personalarbeit beeinflusst

Timm Süss, Lead AI Circle bei der Baloise Gruppe (Bild ©Timm Süss)

Herr Süss, welche Rolle spielt KI in Ihrem (Arbeits-)Alltag?
Eine sehr grosse. Ich leite den AI Circle bei Baloise, eine Gruppenfunktion, die einen holistischen Blick auf künstliche Intelligenz aus Innovations-, Regulations- und Upskilling-Sicht hat. Der spannendste Teil dabei ist das kontinuierliche Entdecken neuer Möglichkeiten – sei es durch das Testen innovativer Tools oder im Vermitteln von Wissen an Mitarbeitende.

Im Arbeitsalltag nutze ich KI als kreativen Partner bei kleineren und grösseren Aufgaben. Ein Beispiel, das mich besonders fasziniert hat: Ich konnte in den letzten Monaten mit KI-gestützten Coding- Agenten mehrere Apps entwickeln – in Programmiersprachen, die ich nicht besonders gut beherrsche. Wo man früher Wochen oder Monate brauchte, um eine neue Programmiersprache zu lernen, kann man heute mit KI-Unterstützung innerhalb weniger Tage funktionierende Lösungen entwickeln. Dasselbe auch mit Tools zur Content-Erstellung: Ich kann ein Video auf Deutsch aufnehmen und innerhalb kurzer Zeit in unsere drei Firmensprachen sowie Englisch übersetzen. Das verändert nicht nur die Art, wie wir arbeiten, sondern auch, wie wir lernen und uns weiterentwickeln.

Auf einer Skala von 1 (kaum) bis 10 (komplett), wie stark wird KI die Arbeitswelt umkrempeln?
Die Transformation würde ich bei 8 bis 9 einordnen. Was wir gerade erleben, ist eine fundamentale Neugestaltung unserer Arbeitswelt. Diese vollzieht sich auf mehreren Ebenen gleichzeitig: Im Mikrobereich unseres täglichen Arbeitens sehen wir bereits, wie KI-Tools Routineaufgaben übernehmen und uns bei komplexen Entscheidungen unterstützen. Auf der Ebene einzelner Berufsbilder entstehen völlig neue Tätigkeitsfelder, während andere sich grundlegend wandeln oder verschwinden. Am weitreichendsten sind jedoch die langfristigen strukturellen Veränderungen – KI verändert nicht nur, wie wir arbeiten, sondern auch, was wir unter Arbeit verstehen. 

Besonders spannend ist die Entwicklung intelligenter KI-Agenten. Während KI-Dialogsysteme wie Claude oder ChatGPT uns heute schon bei der Textanalyse oder Datenverarbeitung unterstützen, werden autonome Agenten zunehmend komplexe Aufgabensequenzen selbstständig bewältigen. Die nächste grosse Revolution steht uns bevor, wenn KI lernt, unsere physische Umwelt umfassend zu verstehen und zu manipulieren – dann wird auch die Welt der manuellen Arbeit eine tiefgreifende Transformation erleben. Das dauert allerdings noch eine Weile: Robotik ist ein kniffliges Feld.

In welchen Bereichen können Unternehmen und ihre Mitarbeitenden am meisten von KI profitieren?
Der Nutzen von KI entfaltet sich auf verschiedenen Ebenen, aber lassen Sie mich das anhand praktischer Beispiele erläutern. Denken Sie an einen typischen Arbeitstag: Wie viel Zeit verbringen Sie mit repetitiven Aufgaben, die Sie eigentlich ungern machen? Genau hier setzt KI an. Sie übernimmt die monotonen Routinearbeiten und schafft Raum für kreative und strategische Tätigkeiten. Zweitens kann KI ein einfacher Zugang zu einem grossen Pool von Expertenwissen sein, auch wenn man aufpassen muss, dass die Chatbots aus Verlegenheit nicht neue Fakten erfinden. Oder KI als Reflexionsfläche: Sie stellt gezielte Fragen, die zum Denken anregen, gibt konkrete Verbesserungsvorschläge und unterstützt die berufliche Entwicklung. Das ersetzt menschliche Coaches nicht, öffnet aber niederschwellige Möglichkeiten für viele Menschen, die sonst nie ein Coaching in Anspruch nehmen würden. 

Der KI-Forscher Ethan Mollick spricht hier von vier strategischen Dimensionen: erstens die klassische Effizienzsteigerung – schnellere Prozesse, automatisierte Routinen. Aber das ist nur der Anfang. Der wahre Mehrwert liegt in den Innovationsmöglichkeiten: Neue Services, die vorher undenkbar waren, werden plötzlich realisierbar. Drittens ermöglicht KI eine Demokratisierung von Dienstleistungen – Premium-Services, die bisher nur wenigen zugänglich waren, können nun breiter angeboten werden. Und schliesslich erlaubt die tiefere Personalisierung bestehender Angebote im Premium-Bereich eine höhere Kundenzufriedenheit.

Wie gut nutzen wir heute die Möglichkeiten von KI bei unserer Arbeit?
Wir kratzen gerade erst an der Oberfläche. Selbst wenn die KI-Entwicklung heute stehen bleiben würde – was sie definitiv nicht wird – bräuchten Unternehmen mindestens fünf Jahre, um die bereits verfügbaren Möglichkeiten vollständig zu integrieren. Es ist wie bei der Einführung des Internets: Wir nutzen die neue Technologie zunächst mit alten Denkmustern, bevor wir ihr transformatives Potenzial wirklich verstehen. 

Was mich besonders fasziniert: Viele Mitarbeitende testen bereits KI-Tools, teilen ihre Erfahrungen aber nicht immer offen. Das zeigt, dass die eigentliche Innovation oft von unten kommt – von Menschen, die pragmatische Lösungen für ihre täglichen Herausforderungen suchen. Unternehmen müssen neben den Bestrebungen, Prozesse mit KI vertikal zu verbessern, diese horizontalen Use Cases fördern und Bedingungen schaffen, damit diese skaliert werden können.

Wo gibt es Aufholbedarf?
Die grösste Hürde ist oft nicht die Technologie selbst, sondern unsere Herangehensweise an sie. Viele Menschen erkennen KI noch nicht als mögliche Lösung für ihre tagtäglichen Herausforderungen – ähnlich wie in den frühen Tagen des Internets, als dessen Potenzial noch nicht erkannt wurde. Der zweite kritische Punkt ist das Verständnis für die Grundprinzipien der KI-Kommunikation. Es ist wie das Erlernen einer neuen Sprache: Man kann sich rasch mit Händen und Füssen verständlich machen – um einen Vortrag zu halten oder einen Roman zu schreiben, benötigt man jedoch viel mehr Erfahrung. 

Die gute Nachricht ist: Diese Fähigkeiten sind erlernbar. Es braucht vor allem praktische Übung und die Bereitschaft, neue Denkmuster zu entwickeln. Die erfolgreichsten Ansätze, die ich in Unternehmen gesehen habe, beginnen mit praktischen Einführungen, die zu kleinen, konkreten Anwendungsfällen führen und dann organisch mit dem steigenden Verständnis der Mitarbeitenden wachsen. 

Als einer der Hauptgründe für den Einsatz von KI wird Prozessoptimierung genannt. Welche Tools empfehlen Sie für die Personalarbeit? 
Grundsätzlich empfehle ich, mit etablierten Sprachmodellen zu beginnen. Je nach Unternehmensgrösse und Anforderungen an Datensicherheit und Compliance gibt es verschiedene Optionen: von der sorgfältig kontrollierten Nutzung öffentlicher Modelle wie Claude oder ChatGPT bis hin zu spezialisierten Enterprise-Lösungen, die einen sicheren und regelkonformen Gebrauch gewährleisten. Wichtig ist, dass die gewählte Lösung zu Ihren spezifischen Sicherheits- und Datenschutzanforderungen passt. 

Die spannende Entwicklung, die wir gerade beobachten, ist die Integration von KI-Funktionen in unsere gewohnten Arbeitstools. Stellen Sie sich vor: Ihre Meetingsoftware erstellt automatisch präzise Zusammenfassungen und extrahiert relevante Aufgaben.

Die Qualität des Outputs hängt bei generativer KI stark vom Input ab. Worauf muss beim «Prompting» geachtet werden? 
Erfolgreiche KI-Kommunikation basiert auf drei Grundpfeilern. Erstens: «Context is king.» Die KI mag zwar über ein umfangreiches Weltwissen verfügen, aber weiss nichts über Sie und Ihre spezifische Situation. Je klarer Sie Ihre Ausgangslage beschreiben, desto «kundenorientierter» wird die Antwort ausfallen. Zweitens geht es um Ihre Absicht. Was wollen Sie mit der Antwort erreichen? Je präziser Sie formulieren können, was Sie mit den KI-Antworten erreichen wollen, desto besser kann die KI darauf hinarbeiten. Der dritte Pfeiler ist ein klarer Auftrag: Was soll die KI für Sie tun? Welches Format erwarten Sie? Welche spezifischen Anforderungen gibt es?

Auch wenn KI nicht menschlich ist, lohnt es sich, ihr die Aufgaben so zu stellen, als ob Sie einen neuen Mitarbeitenden vor sich hätten: Sie würden ihm auch erklären, in welchem Kontext eine Aufgabe steht, was das Ziel ist und welche Form das Endergebnis haben soll – und dies danach auch kontrollieren. Diese menschliche Art der Kommunikation führt auch bei KI zu den besten Ergebnissen.

ZUR PERSON
Timm Süss (50) leitet seit 2023 den AI Circle bei der Baloise Group, wo er mit einem interdisziplinären Team die KI-Governance und digitale Kompetenzentwicklung verantwortet. Mit 28 Jahren Erfahrung in HR, People Analytics und Künstlicher Intelligenz hat er über 500 Mitarbeitende in Prompt-Design geschult und ein unternehmensweites KI-Netzwerk aufgebaut. Der studierte Organisationspsychologe mit Weiterbildungen in Data Science und Datenschutz ist regelmässig Dozent an Fachhochschulen sowie Referent bei KI-Anlässen. Als selbstständiger Berater unterstützt er Unternehmen mit praxisnahen KI-Workshops, Vorträgen und individuellen KI-Coachings. Er lebt mit seiner Familie und einer fluktuierenden Anzahl Katzen am Waldrand. Mehr Info: https://timmsuess.com

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie das ganze Gespräch in der aktuellen Printausgabe.

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