Experten-Interviews

Dezember 2018/Januar 2019

Servicekultur: «Der Kunde ist der wichtigste Mensch im Unternehmen»

Was müssen Firmen tun, um auf die schnelllebigen Ansprüche und Bedürfnisse von Kunden einzugehen? Massnahmen wie mehr Agilität sind für Anne M. Schüller reine Symptombekämpfung. Sie plädiert für ein völlig neues Organisationsmodell, das den Kunden in den Mittelpunkt stellt. Wir haben die Managementdenkerin zum Gespräch getroffen.

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Servicekultur

Frau Schüller, was verstehen Sie ­unter einem guten Service oder einer guten Servicekultur?
Ein guter Service ist etwas sehr Persönliches. Was jeweils begeistert, das liegt im Auge des Betrachters. Selbst die so viel beschworene Qualität unterliegt dem subjektiven Urteil des Kunden. Qualität ist nicht das, was ein Anbieter definiert oder gar zertifizieren lässt, sondern das, was die einzelnen Kunden tatsächlich erwarten. Das hängt von der Anspruchshaltung des Einzelnen ab, manchmal sogar von seiner Tagesform. So können Servicestandards, die einem Anbieter adäquat erscheinen, für einzelne Kunden völlig inakzeptabel sein. Und ein Fehler zur falschen Zeit an einer winzigen Stelle kann den Gesamteindruck für immer zerstören.

Wo steht die Schweiz im internationalen Vergleich? Herrscht in Regionen oder Ländern, die auf eine lange Tourismus-Tradition zurückblicken, generell ein höherer Standard an Servicekultur?
Ganz generell empfinde ich den Umgang der Menschen untereinander und auch in Servicesituationen in der Schweiz als äusserst angenehm. Andererseits birgt eine lange Tradition immer auch die Gefahr, dass man zu sehr im Alten verhaftet bleibt. Genau das ist dann das Einfallstor für ganz neu gedachte, frische Ideen. Jungunternehmen versuchen erst gar nicht, alte Vorgehensweisen aufzupeppen. Herkömmliche Branchengesetze sind ihnen völlig egal. Gewohntes wird radikal infrage gestellt. Sie entwickeln nicht weiter, sondern kreieren unbekümmert, wagemutig und vor allem digitalbasiert die Dinge völlig anders und neu. Dabei entstehen Innovationen, die die Welt so umfassend verändern wie niemals zuvor.

Wie beeinflussen das Internet, die Automatisierung und die Digitalisierung die Servicekultur?
Das Internet, die Automatisierung und die Digitalisierung ermöglichen völlig neue Serviceformen, die sich schnell und adaptiv an die immer neuen und sich stetig steigernden Ansprüche der Kunden anpassen können. Zum Beispiel werden Chatbots in naher Zukunft ein riesiges Thema. So geht die Entwicklung vom klassischen Sales- und Servicedialog zwischen Menschen hin zur Interaktion mit künstlichen Intelligenzen. Wenn Sprachbots auf der Basis von selbstlernenden Algorithmen eines Tages die fundiertesten Antworten geben, dann wird der direkte Kundenkontakt in vielen Situationen nicht mehr gebraucht. Aber wenn wir ihn brauchen, dann muss er aussergewöhnlich sein. «Sie sprechen jetzt mit einem Menschen» kann und muss zu einem Qualitätsmerkmal werden. Wer seine Mitarbeitenden nämlich komplett durch Chatbots ersetzt, riskiert, dass er Kunden verliert. Die menschliche Komponente bleibt auch in Zukunft von hoher Bedeutung. So wird das assistierende Verkaufen fortan eine wichtige Rolle spielen. Dies wird über Contact Center passieren, in denen Menschen arbeiten, die extrem gut ausgebildet sind und richtig viel von einer Sache verstehen. Denn bei vorinformierten Kunden werden die Fragestellungen kniffliger, und die Anliegen werden komplexer.

Die Tendenz geht in Richtung persönlicher, individuell zugeschnittener Service. Sie geht aber auch in Richtung Spezialisierung, Digitalisierung und Automatisierung. Eigentlich ein Gegensatz, nicht?
Die Individualisierung ist einer der ganz grossen Megatrends. Früher hatten alle die gleiche Schallplatte, heute hat jeder seine ganz persönliche Playlist. Perfekt auf uns zugeschnittene Angebote können aber erst dank kontextbezogener Daten und künstlicher Intelligenz wirklich gelingen. Das Standardsegment und Allerweltslösungen erodieren. Je personifizierter das Produkt, desto höher die Absatzchancen. Customization wird zum neuen Erfolgsformat. Die Digitalisierung ist dabei der Helfershelfer.

Sehen Sie Trends und Entwicklungen im Bereich der Servicekultur? Sachen, die sich im Ausland schon durchgesetzt haben und die auch hierzulande Fuss fassen könnten? Und wird es auch Dinge geben, die in nächster Zeit verschwinden werden?
Anderswo und auch hier: Heute erreichen Unternehmen eine Vorrangstellung nicht länger durch das, was sie tun, sondern darüber, wie es die Kunden wahrnehmen – und was sie Dritten dazu erzählen. So entscheidet sich, ob neue Kunden kommen und kaufen. Was einem nicht passt, wird an den Online-Pranger gestellt. Deshalb darf man die Kunden nicht an Service, ­Sales & Marketing wegdelegieren. Jeder im Unternehmen muss sich um ihr Wohlwollen kümmern. Die Erwartungshaltung der Kunden steigt täglich. Und sie haben ein Smartphone, ihr Allmachtsgerät. Wem etwas nicht passt, der ist mit einem Wisch weg. Im Web wird man ständig zur Untreue verführt. «Alles für den Kunden» lautet also das Credo.

«Das Standardsegment und Allerweltslösungen erodieren. Je personifizierter das Produkt, desto höher die Absatzchancen. Customization wird zum neuen Erfolgsformat.»

Aber ist das nicht völlig normal?
Nein, ganz und gar nicht. Die meisten Unternehmen agieren selbstbezogen und effizienzgetrieben. Tunlichst sollen sich die Kunden in die von den Anbietern vorgedachten Abläufe fügen, umständliche Formalien akzeptieren und im Takt ihrer altersschwachen Software ticken. Heisst: Die Klientel soll ackern, damit man selbst nicht so viel Arbeit hat. Manche Unternehmen sind richtig gut darin, Vorgehensweisen mühsam zu machen, einem die Zeit zu stehlen und schlechte Gefühle zu verbreiten. Niemand glaube doch bitte im Ernst, dass die Leute so was noch lange erdulden! Längst liegt die Macht bei den Kunden. Mit ihren Aktionen, bei denen sie sich zu virtuellen Schwärmen verbinden, können sie über Leben und Tod eines Anbieters entscheiden. Und so was geht heute ruckzuck. Der Kunde ist der wichtigste Mensch im Unternehmen. Doch klassische Organisationen haben ihn nicht mal im Organigramm. Selbst bei Firmen, die sich Kundenorientierung gross auf die Fahne schreiben, fehlen die Kunden im Schaubild der Organisation. Wie will man da von Customer Centricity reden? Sie wird zwar gelobt, aber nicht gelebt. Während sich draussen alles vernetzt, verhaften klassische Organisationen noch immer im Abteilungsdenken. Aufgaben werden entlang von internen Berichtslinien organisiert. Zukunftsunternehmen hingegen strukturieren sich entlang der Kundenaufgaben. Aus Kundensicht müssen Prozesse crossfunk­tional funktionieren und sich reibungslos miteinander verzahnen. Wer Prozesse zwar optimiert, aber nicht auf die Kundenbedürfnisse abstimmt, wird immer besser darin, das Falsche zu tun. Wirklich kundenorientiert ist nur der, der sämtliche möglichen Ärgernisse vom Kunden zum Anbieter verschiebt, sodass nur noch positive Erlebnisse übrigbleiben.

Was haben die Kunden denn heute für Ansprüche, verglichen zu früher?
Das Kaufverhalten und die Entscheidungsprozesse der Kunden haben sich längst weitaus drastischer verändert, als die Unternehmen das wahrhaben wollen. Viele Anbieter kommen den sich zunehmend digitalisierenden Konsumenten längst nicht mehr hinterher. Deren Gewohnheiten ändern sich laufend. Ihre Anspruchshaltung steigt ständig. Messlatte ist nicht länger der Wettbewerb, sondern branchenübergreifend der Beste seines Fachs. Statussymbole verlieren an Reiz. Immaterielles erhält zunehmend Bedeutung. Erlebnisse sind vor allem der optionsfreudigen jungen Generation wichtiger als Besitz. Sharen, also das Teilen von Dingen, wird zum neuen Megatrend. Zudem sind die Kunden ständig absprungbereit. Neues wird laufend getestet. Wechseln ist völlig normal. Die Neukundengewinnung erfordert eine endlose Kraftanstrengung. «Solide» Leistungen und Beliebigkeit fallen gnadenlos durch. Standard und Mittelmass locken heutzutage niemanden mehr. Wer nicht begehrlich ist, für den klappt das Verkaufen, weil alles so transparent und vergleichbar ist, nur noch über den Preis. Nicht die austauschbaren Produkte, sondern Top-Performance, smarte Lösungen, digitalisierte Dienstleistungen und eine individualisierte Beziehungs­arbeit ergattern die Stimmzettel, also Geldscheine, wertiger Kunden. Und obendrein: Die Zeitbudgets der Menschen sind zunehmend begrenzt. Anbieter, die uns die Zeit stehlen, kommen deshalb nicht in Betracht. Was kompliziert ist, scheidet aus. Was Probleme macht, auch. Die Geduld ist schnell zu Ende, wenn was nicht gleich reibungslos klappt. Assistenz auf Abruf wird deshalb zunehmend wichtig. Digitale Unterstützung ist höchst willkommen. Am besten sorgen Anbieter proaktiv dafür, dass Probleme erst gar nicht entstehen. Hierzu werden Echtzeitdaten genutzt, um Prognosen für die nahe Zukunft zu machen. Predictive Maintenance, die Instandsetzung, bevor etwas kaputtgeht, ist eines der Einsatzgebiete.

Warmes Bier oder eine Stunde in der Warteschlaufe einer Hotline: Was ist für Sie persönlich ein absolutes No-Go?
Mich nerven vor allem solche Anbieter, die derart in ihren Routinen verhaftet sind, dass sie gar nicht bemerken, wie wenig kundenfreundlich sie in Wahrheit agieren. Da ist zum Beispiel die Geschichte meines Koffers: Er ist bei einem Lufthansa-Flug falsch verladen worden und kam erst Tage später erheblich beschädigt bei mir an. Auch wenn höchst ärgerlich, das kann passieren. Als Kunde würde man wohl erwarten, dass es neben einer ausdrücklichen Entschuldigung für diesen Doppel-Fauxpas eine Info gibt, wie zu verfahren ist. Der Bote, der das Teil bringt, ist zwar freundlich, hat aber keine Ahnung. Dann also telefonieren. Der Call-Center-Agent will unkompliziert helfen, darf es aber nicht, weil solche Anliegen nur über ein Formular bearbeitet werden, das er nicht zumailen darf. Die Suche danach auf der Website ist mühsam. Und dann – passiert nichts, vier Wochen lang. Bis eine No-Reply-Mail endlich verkündet, was mit dem Koffer zu tun sei. Die weitere Kommunikation entspann sich in einem aufreibenden schriftlichen Hin und Her. Hätte ich die Wahl, würde ich niemals bei einem solchen Anbieter bleiben.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie die vollständige Fassung in der aktuellen Printausgabe.

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