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Experten-Interviews
Mehrfachbeschäftigung, Gig Work & soziale Absicherung: «Flexwork ist nicht nur ein Trend»

Myra Fischer-Rosinger, als Direktorin von Swissstaffing setzen Sie sich für die Interessen der Schweizer Personaldienstleister ein. Welche sind aktuell die drei grössten Herausforderungen in der Branche?
Die Personaldienstleistungsbranche blickt auf zwei wirtschaftlich anspruchsvolle Jahre zurück. Der Fachkräftemangel gepaart mit einer schleppenden Konjunkturentwicklung schufen herausfordernde Rahmenbedingungen. Der sehr akute, durch die Post-Corona-Erholung befeuerte Arbeitskräftemangel hat zwar etwas nachgelassen. Aufgrund der demografischen Alterung bleibt aber ein grundsätzlicher Fachkräftemangel bestehen, der sich über die nächsten Jahre verschärfen wird. In einem solchen Umfeld sind Personaldienstleister gefragt, um das Arbeitskräftepotenzial maximal auszuschöpfen. Gerade die Temporärarbeit ist eine sehr geeignete Arbeitsform, um Nichterwerbstätige in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Flexibilität dieser Arbeitsform erleichtert den (Wieder-)Einstieg. Aber auch Personaldienstleister können nicht zaubern. Das heisst, der demografisch bedingte Arbeitskräftemangel ist auch für sie eine Herausforderung. Umso wichtiger ist es, dass der europäische Arbeitsmarkt für Schweizer Arbeitgeber geöffnet bleibt. Ein stabiles Verhältnis der Schweiz zur EU ist für den hiesigen Arbeitsmarkt, für die Schweizer Unternehmen und für die Personaldienstleister zentral.
Flexibilität beim Arbeiten liegt im Trend. Das bedeutet für die einen, in ihrem Job die Arbeitszeit flexibel einzuteilen. Für die anderen, bei mehreren Arbeitgebern tätig zu sein. Wie hat sich die Anzahl der Mehrfachbeschäftigten in der Schweiz in den letzten Jahren entwickelt?
Flexwork ist nicht nur ein Trend, sondern bereits gelebte Realität am Schweizer Arbeitsmarkt. Rund ein Viertel bzw. 1,3 Millionen der Erwerbstätigen in der Schweiz sind Flexworker. Sie sind in einer Arbeitsform tätig, die sich ausserhalb der klassischen, unbefristeten Vollzeit-Festanstellung bei einem einzigen Unternehmen abspielt. Sie arbeiten als Selbstständige ohne Angestellte, in Teilzeitpensen unter 50%, als Mehrfachbeschäftigte, als Arbeitende auf Abruf oder als Temporärarbeitende.1
Eine repräsentative Umfrage von 1230 Personen im erwerbsfähigen Alter2 stellt zudem fest, dass Flexibilität – besonders bei der Arbeitszeitgestaltung – für Erwerbstätige zentral ist. In der Realität klaffen Anspruch und Wirklichkeit aber weit auseinander: 80% der Erwerbstätigen wünschen sich Flexibilität bei der Arbeitszeiteinteilung, aber für nur 50% ist dies bei ihrer aktuellen Arbeitsstelle möglich. Um Mitarbeitende zu gewinnen oder zu halten, müssen Arbeitgebende flexible Arbeit möglich machen. Denn die Gefahr der Abwanderung ist real. Obwohl die Mehrheit der Erwerbstätigen mit ihrer Stelle zufrieden ist, wäre fast die Hälfte bei passender Gelegenheit zu einem Wechsel bereit.
Neben der «klassischen» Mehrfachbeschäftigung, bei der z. B. neben einem Hauptjob noch ein Zusatzjob hinzukommt, gibt es auch «Gig Work». Was versteht man darunter? Die Digitalisierung beschleunigt den Flexwork-Trend, erleichtert das flexible, ortsunabhängige Arbeiten sowie ein rasches Matching zwischen Kunden und Leistungserbringenden. Unter dem Begriff «Gig Work» werden üblicherweise Kurzeinsätze verstanden, die über eine Plattform vermittelt werden. Eine rechtliche Definition von Gig Work gibt es hingegen nicht. Und Gig Work lässt sich auch nicht klar in die Erwerbskategorien einordnen, die in der Schweiz existieren. Es gibt Formen der Plattformarbeit, die sich im Rahmen der klassischen Anstellung abspielen. Und es gibt solche, die sich im Rahmen der selbstständigen Erwerbstätigkeit einzuordnen versuchen. Und dann gibt es noch etliche Mischformen, die sich im rechtlichen Niemandsland bewegen.
Welche Vor- und Nachteile hat Gig Work aus Arbeitnehmersicht?
Gig Work ist eine flexible Arbeitsform, und Flexibilität wird von vielen Arbeitnehmenden gewünscht. Flexwork ermöglicht es den Arbeitnehmenden, berufliche und private Interessen besser zu vereinbaren und verschiedene berufliche Erfahrungen zu sammeln. Ausserdem bietet Gig Work niederschwellige Jobmöglichkeiten, die einfach über Plattformen zugänglich sind. So weit die Vorteile.
Da sich Gig Work wie erwähnt in einem rechtlich unklaren Rahmen abspielt, besteht für die Arbeitnehmenden aber eine grosse Rechtsunsicherheit. In aller Regel geniessen sie weder den Schutz des Arbeitsrechts noch die Sicherheitsnetze des Sozialversicherungsrechts. Gig Worker sind – sofern sie nicht als Angestellte qualifiziert werden – nicht gegen Arbeitslosigkeit, Erwerbsausfall bei Krankheit oder Invalidität abgesichert und zahlen nicht in ihre Altersvorsorge ein.
Dem gegenüber spielt sich die Temporärarbeit, welche viele Ähnlichkeiten zu Gig Work hat, in einem ganz klaren rechtlichen Rahmen ab. Temporärarbeitende sind Angestellte und geniessen den vollen Schutz des Arbeits- und Sozialversicherungsrechts. Darüber hinaus regeln das Arbeitsvermittlungsgesetz und der GAV Personalverleih die Spezifitäten der Temporärarbeit, sodass Flexibilität und Sicherheit optimal miteinander verbunden werden.
Und wie sieht Gig Work aus der Arbeitgeberperspektive aus? Mit welchen Herausforderungen sind Unternehmen bei der Anstellung und Abrechnung von Gig Workern oder Mehrfachbeschäftigten konfrontiert?
Die Rechtsunsicherheit besteht natürlich auch für die Arbeitgeber. Sie gehen das Risiko von Scheinselbstständigkeit ein, wenn sie Gig Worker engagieren, deren arbeits- und sozialversicherungsrechtliche Einordnung unklar ist. Je nach Ausgestaltung der Geschäftsbedingungen der Gig-Work-Plattform kann es vorkommen, dass dem Kunden die Arbeitgeberrolle übertragen wird. Solche Konstellationen sind aber nicht immer transparent. Kunden von Gig-Work-Plattformen sollten deshalb genau prüfen, ob sie mit der Einstellung eines Gig Workers zu Arbeitgebern werden und entsprechende Fürsorge- und Abrechnungspflichten gegenüber den Sozialversicherungen eingehen.
Gerade wenn man als Gig Worker*in für viele verschiedene Auftraggeber tätig ist, erreicht man oft nicht das BVG-Obligatorium von CHF 22 680.– pro Arbeitgeber. Wie können sich diese trotzdem absichern?
Ein Pensionskassenanschluss für Gig Worker und Mehrfachbeschäftigte ist sehr schwierig. Denn die Eintrittsschwelle von CHF 22680.– pro Jahr wird bei Gig Work häufig nicht erreicht. Sind die Gig Worker als Selbstständigerwerbende tätig, müssen sie selbst für ihre berufliche Vorsorge aufkommen. Wie unsere Analyse1 zeigt, ist der Anschluss an eine Pensionskasse für Selbstständigerwerbende aber kompliziert und aufwendig. Genau aus diesem Grund hat die Temporärbranche ihr eigenes Pensionskassenmodell entwickelt. Sie rechnet die BVG-Eintrittsschwelle auf den Stundenlohn um, wodurch ein Pensionskassenanschluss für Temporärarbeitende ab der ersten Einsatzstunde möglich ist. Diese Regelung ist im allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag Personalverleih verankert.
Sind die aktuellen Sozialversicherungssysteme der Schweiz auf Mehrfachbeschäftigung und die Gig Economy ausgelegt?
Nein, das sind sie nicht. Eine Reform der Sozialversicherungssysteme ist bekannterweise ein sehr anspruchsvolles Unterfangen. Die zunehmende Flexwork ist ja nur eine der Herausforderungen für die Sozialversicherungen. Das noch viel akutere Problem ist die demografische Alterung. Wie die Erfahrung zeigt, ist die politische Mehrheitsfähigkeit für Reformprojekte in diesem Bereich nur sehr schwer herzustellen. Deshalb kommen wir mit Branchenlösungen vermutlich schneller und zielgerichteter voran, wie eben zum Beispiel jene in der Temporärbranche.
ZUR PERSON
Myra Fischer-Rosinger (44) arbeitet seit 19 Jahren für die Personaldienstleistungsbranche und ist seit 2014 Direktorin des Branchenverbands swissstaffing. Sie hat die Entwicklung des Gesamtarbeitsvertrags Personalverleih eng begleitet, den Weiterbildungsfonds temptraining aufgebaut und gilt als Expertin zum Thema Flexwork. Nach ihrem Studium der Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Zürich und Genf hat sie verschiedene Management- und Leadership-Weiterbildungen an der Uni St. Gallen sowie an der Harvard Business School absolviert. Bevor sie in die Personaldienstleistung einstieg, war sie in der Politikberatung tätig. Neben der Arbeitswelt schlägt ihr Herz für ihre Familie.
Fussnoten
1 swissstaffing (2022): White Paper – Temporärarbeitende sind am besten gestellt: Flexible Arbeitsmodelle im Vergleich. www.swissstaffing.ch/whitepaper
2 swissstaffing (2024): White Paper – Mehr Arbeitskräfte dank Selbstbestimmung. Erwerbstätige wollen grössere Flexibilität. www.swissstaffing.ch/whitepaper
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