Experten-Interviews

Mai 2021

Betriebliches Gesundheits- und Absenzenmanagement: «Sinnvolle Arbeitsaufgaben als beste Prävention»

Es lohnt sich, das Wohlbefinden der Belegschaft nicht zu vernachlässigen. Denn gesunde Mitarbeitende sind nicht nur leistungsfähiger und motivierter, sondern fehlen auch weniger häufig. Wir haben mit Dr. phil.-hist. Hildegard Nibel, Beraterin und Coach bei HR Risk Management, darüber gesprochen, mit welchen Massnahmen die Gesundheit von Mitarbeitenden gefördert und Absenzen reduziert werden können. Im Gespräch erklärt die BGM-Expertin, wie man arbeitsbedingten Gesundheitsstörungen wie z.B. Burnout vorbeugen kann und welche Rolle HR und Führungskräfte bei der betrieblichen Gesundheitsförderung übernehmen sollten.

Von: Dave Husi   Teilen  

Dave Husi

Dave Husi ist Chefredaktor von personalSCHWEIZ.
Zuvor hat er bei einem Medien-Startup Gründerluft geschnuppert und war bei einem Fachverlag im Medizinbereich journalistisch tätig.

Betriebliches Gesundheits- und Absenzenmanagement

Frau Nibel, mit welchen Herausforderungen sind Sie aktuell in Ihrer Arbeit als Beraterin und Coach im BGM-Bereich konfrontiert?
Die Mitarbeitenden in den Gesundheitsberufen sind langsam erschöpft, zum einen durch die zusätzlichen Belastungen durch die zeitaufwendigen Hygienemassnahmen, aber auch, weil das, was an diesen Berufen Freude macht – der intensive Kontakt zu anderen Menschen –, sehr eingeschränkt ist. Und die «Bürolisten» sind inzwischen alle Zoom-müde, müde von den Einschränkungen durch die Pandemie und sehnen sich nach menschlicher Nähe, unkompliziertem Zusammenarbeiten und Zusammensein.

Ihr Kerngebiet ist das Absenzenmanagement. Sie unterstützen Unternehmen diesbezüglich, ein solches zu optimieren oder aufzubauen. Was sollte beachtet werden?
Es sollten keine unnötigen administrativen Aufgaben eingeführt werden, die niemandem wirklich nützen. Z.B. Rückkehrgespräche nach jeder Absenz führen und diese dokumentieren oder ab dem 2. Monat Mitarbeitende bereits zur Früherfassung bei der IV anmelden, sofern Sie vorher nicht anderes versucht haben, etwa über eine stufenweise Rückkehr in den Arbeitsprozess nachzudenken. Den grössten Return on Investment bieten die Langzeitabsenzen, wenn man es schafft, sie zu verkürzen oder statt einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit eine stufenweise Steigerung der Arbeitsfähigkeit zu erreichen. Dann können Sie spätestens im zweiten Jahr zwischen einem Viertel und einem Drittel der Krankentaggeldleistungen einsparen.

In welchem Rahmen bewegen sich die jährlichen Kosten für Unternehmen durch Fehlzeiten von Mitarbeitenden?
Die meisten Unternehmen erfassen Absenzen recht genau und könnten daher auch wissen, wie hoch die Kosten sind – wenn sie es wissen wollten. Allerdings verschwindet ein grosser Teil der Absenzkosten aus dem Blickfeld, weil diese durch langzeitkranke Mitarbeitende verursacht werden, mit denen der Arbeitsvertrag entweder aufgelöst wurde oder weil diese in der Statistik im neuen Jahr nicht mehr mitgeführt werden. Bemerkbar machen sich diese Kosten nur noch in den Abrechnungen der Unfall- oder der Krankentaggeldversicherung. In den offiziellen Statistiken des Bundesamts für Statistik liegt die Absenzquote um die 3%. Auf die 5 Mio. Beschäftigten in der Schweiz hochgerechnet, ergibt das grob geschätzt CHF 7 Mrd. Eine etwas ältere Forschungsarbeit hat die durch Arbeitsstress verursachten Kosten auf ca. 4 Mrd. geschätzt – irgendwo in dieser Grössenordnung bewegen wir uns also.

Welche Massnahmen sind zur Reduktion von krankheitsbedingter Abwesenheit besonders erfolgversprechend?
Das, was auch SUVA und IV empfehlen: die stufenweise Rückkehr in den Arbeitsprozess mit Arbeitserleichterungen. Leider ist das im Einzelfall nicht so einfach, wie es klingt. Bei Beschäftigten, die ihre Erkrankung auf private Belastungen zurückführen, funktioniert es meist gut. Wenn die private Belastung weg ist, ist man wieder uneingeschränkt leistungsfähig. Ist jemand hingegen durch eine bestimmte Arbeitssituation krank geworden, ist es unwahrscheinlich, dass man nach einer Pause diese Arbeit wieder aufnehmen kann, ohne über kurz oder lang erneut krank zu werden. Idealerweise kann man das Pensum reduzieren oder eine andere Tätigkeit im Unternehmen finden, in einem anderen Team, mit einem anderen Vorgesetzten. Der Wechsel der seelischen und der körperlichen Belastungen kann entscheidend zur Heilung beitragen.

Ist dies von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich?
In Kleinbetrieben ist es aufgrund der wenigen Arbeitsplätze schwieriger, neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden. In der Regel ist die Fluktuation auch niedrig, sodass sich weniger Möglichkeiten ergeben, irgendwo nachzurücken oder eine Lücke zu schliessen, z.B. für jemanden, der sich eine Auszeit gönnt. In grösseren Betrieben sind die Tätigkeiten oft so stark spezialisiert, dass es schwierig ist, eine offene Stelle mit jemandem zu besetzen, der nach einer längeren Erkrankung wieder in den Arbeitsprozess zurückkehren möchte.

«Reden hilft nur, wenn das Arbeitsklima von Vertrauen geprägt ist.»

In welchem Bereich gibt es den grössten Nachholbedarf, sprich: Was können Unternehmen besser machen?
In den meisten Unternehmen lautet die vorschnelle Antwort, dass ein Wechsel der Arbeitstätigkeit nicht möglich sei, weil das Unternehmen zu klein sei dafür, zu spezialisiert usw. Dabei wird die Lernfähigkeit der Mitarbeitenden unterschätzt, genauso wie ihr Potenzial und ihre Flexibilität. Nach einer längeren Arbeitsabwesenheit können verschiedene Arten von Teilzeiteinsätzen sinnvoll sein. Denkbar wären etwa das Arbeiten an einzelnen Tagen oder Halbtagen, die Übernahme von Ferienvertretungen, Sonderaufgaben sowie neuen Projekten, oder man hilft beim Aufarbeiten von Liegengebliebenem. Absenzgespräche zu führen, gehört ebenfalls zum Prozess.

Welche Tipps können Sie dazu geben?
Weniger ist mehr. Verschwenden Sie als Vorgesetzte oder Personalverantwortliche Ihre Zeit nicht für Gespräche mit Mitarbeitenden, die sowieso nach einer kürzeren oder längeren Zeit der Krankschreibung an den Arbeitsplatz zurückkommen. Dies sind erfahrungsgemäss mehr als 80% aller Mitarbeitenden. Konzentrieren Sie sich lieber auf jene Mitarbeitenden, bei denen die Rückkehr nicht so selbstverständlich ist. Sei es, weil sie sich im bisherigen Team nicht wohlfühlen, mit ihrem Vorgesetzten nicht klarkommen oder keine Freude an ihrer Arbeit haben und lieber etwas anderes machen würden.

Absenzenmanagement ist Teil des gesamten BGM. Ein weiterer Bereich ist die Gesundheitsprävention. Welche Handlungsfelder gibt es hier für Unternehmen?
Sinnvolle Arbeitsaufgaben sind die beste Prävention. In letzter Zeit wurde wieder vermehrt die Sinnhaftigkeit von Arbeit thematisiert, die Welt irgendwie besser und schöner zu machen, nützlich zu sein für andere und nicht nur an der eigenen Karriere zu basteln. Wenn alle Mitarbeitenden sich auf den Sinn und Zweck ihrer Arbeit konzentrieren können, gibt es fast automatisch weniger Mobbing, weniger destruktive Spielchen, Wichtigtuerei und was sich Menschen sonst noch alles in ihrer Unausgefülltheit ausdenken. Grundsätzlich finde ich, dass sich ein Unternehmen auf die Sekundär- und Tertiärprävention konzentrieren sollte, d.h. auf Angebote für Mitarbeitende, die ein erhöhtes Krankheits- oder Unfallrisiko haben. Dafür gibt es sehr bewährte und sehr einfache statistische Kriterien: mehr als sieben Kurzabsenzen, mehr als vier Arztzeugnisse oder mehr als sechs Wochen Abwesenheit am Arbeitsplatz innerhalb von zwei Jahren. Diese Absenzen sind noch nicht richtig auffällig oder teuer, aber in mehr als jedem dritten Fall entwickeln betroffene Mitarbeitende so ernsthafte Gesundheitsstörungen, dass ihre Arbeitsfähigkeit langfristig gefährdet ist. Diese Alarmsignale sollte man als Unternehmen ernst nehmen und gezielt durch verschiedenste Formen von Fort- und Weiterbildung sowie Belastungs- und Tätigkeitswechsel entgegenwirken, um Langzeiterkrankungen zu vermeiden.

Stress ist eine der häufigsten arbeitsbedingten Gesundheitsstörungen. Wie kann verhindert werden, dass lang anhaltende Stresssituationen und hohe Arbeitsbelastung zu einem Burnout führen?
Das Einfachste wäre doch, wenn Mitarbeitende einfach zu ihren Vorgesetzten gehen könnten, um mitzuteilen, dass es ihnen zu viel ist, und Vorschläge zu machen, wie man diese Überbelastung reduzieren könnte. Leider geht das selten so einfach. Zum einen, weil viele Vorgesetzte finden, dass die eingeforderte Arbeitsbelastung normal und damit zumutbar ist; eine solche Bitte von Mitarbeitenden wird gerne auch als Faulheit oder mangelnde Arbeitsmotivation gedeutet. Zum anderen, weil Mitarbeitende selbst verinnerlicht haben, dass sie das schaffen müssen, was ihnen an Arbeit zugeteilt wurde, und dass sie es als persönliches Versagen empfinden, wenn sie das zugeteilte Pensum nicht bewältigen. Psychisch gesunde Mitarbeitende versuchen, sich gegen diese Überforderung abzugrenzen, und suchen nach Unterstützung. Sie lassen sich krankschreiben oder suchen sich eine neue Stelle. Beschäftigte, die hingegen aufgrund ihrer bisherigen Lernerfahrungen gewohnt sind, dass man ihre Bedürfnisse nicht ernst nimmt, überfordern sich immer weiter, bis sie dann tatsächlich zusammenbrechen – und viele Wochen, Monate oder gar Jahre brauchen, um sich davon wieder zu erholen.

Können Sie ein Fallbeispiel für eine erfolgreiche Präventionsmassnahme aus Ihrer eigenen Tätigkeit beschreiben?
Eine Mitarbeiterin, die ihre häufigen Migräne anfälle mit der Schichtarbeit begründet hat. Kaum wurde sie in die regelmässige Tagesschicht eingeteilt, waren die Migräneanfälle verschwunden. Oder eine Laborarbeiterin, die eine neue Chefin bekommen hatte und bei der sich dadurch die Anzahl ihrer Kurzabsenzen sofort normalisierte.

Dies ist eine gekürzte Fassung des Interviews. Lesen Sie das ganze Gespräch in der aktuellen Printausgabe.

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